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Spritze gegen Sucht
Impfen und biochemische Konditionierung sollen Drogenabhängigen helfen
Von John A. Kantara

Wochenlang hing Bobby mit falschen Freunden herum, teilte ihren Drogenkonsum, schnupfte, rauchte und spritzte. Doch während seine Freunde ein High nach dem anderen erlebten, blieb Bobby nüchtern. Er ist gegen eine ganze Reihe von Drogengiften immun. Denn er ist gegen die süchtig machenden Chemikalien geimpft worden. In Bobbys Blut schwimmen Antikörper, die Drogengifte eliminieren, bevor sie in seinem Gehirn wirken können. Ein Triumph der Arzneimittelforschung über die Drogensucht?

Doch Bobby ist kein rebellischer Teenager, sondern eine Laborratte, geimpft von Kim Janda und Rosio Carrera vom Scripps Research Institute in La Jolla, Kalifornien. Hier wurde der erste Impfstoff gegen Kokain entwickelt. Er versetzt das Immunsystem der Tiere in die Lage, die Droge zu neutralisieren. "Die Immuntherapie nutzt unser natürliches Verteidigungssystem, die Antikörper", erklärt Kim Janda. "Wir haben das Immunsystem mit einem Trick so geschärft, dass es das eigentlich zu kleine Kokainmolekül dennoch als Fremdkörper erkennt. Im Blut entstehen spezifische Antikörper gegen die Droge. Raucht nun jemand Crack oder schnupft Kokain, dann baut das Immunsystem die Droge ab."

Das Kokainmolekül wird von katalytischen Antikörpern zerschnitten wie von einer Schere. Kaum ist das Rauschgift im Blut, wird es in zwei inaktive Substanzen gespalten. Kein Kick, kein High. Mittlerweile sind die Tierversuche abgeschlossen, und der Impfstoff GND-KLH ist für den Versuch am Menschen vorbereitet. Ungefähr zwei Monate hält die Schutzimpfung bisher vor. Kim Janda und sein Team wollen die schützende Wirkung auf ein Jahr ausbauen. Schon laufen erste klinische Studien mit verschiedenen Impfstoffen gegen Kokain. Und Janda hat bereits andere Drogen im Visier. "Kokain ist eine Substanz, die in unserem Körper nicht natürlich vorkommt", erklärt die Neuropharmakologin Rosio Carrera. "Theoretisch können wir sicher auch Impfstoffe gegen Nikotin und andere Drogen herstellen."

Doch was ist Sucht? Ist es die nachvollziehbare Flucht aus schwierigen sozialen Umständen, ein erlerntes Verhalten oder die zwangsläufige Folge einer angeborenen, fehlgesteuerten Hirnchemie? Wahrscheinlich ist es eine Mischung. Während aber die ererbte Prädisposi-tion fest verankert in den Genen liegt, scheint das Verlangen nach einem Suchtstoff über Impfungen oder Neukonditionierung beeinflussbar zu sein.

Ausgerechnet in den USA, dem Land, das weltweit am meisten Geld für Suchtbekämpfung ausgibt, sah es lange Zeit nicht gut aus für Impfstoffe gegen Rauschgift. Im US-Drogenkrieg geht Strafe noch immer vor Therapie und Hilfe. Dabei sind die US-Gefängnisse voll mit Drogenabhängigen. Von den fast zwei Millionen Insassen wurden sechzig bis siebzig Prozent bei ihrer Verhaftung positiv auf Rauschgift getestet. Kim Janda hatte jahrelang Schwierigkeiten, die Pharmaindustrie für seinen Impfstoff zu interessieren. "Es geht ums Geld. Die meisten Krankenversicherungen decken Kokainsucht nicht ab. Sucht wird nicht als Krankheit anerkannt", sagt er.

Inzwischen dämmert auch den härtesten Antidrogenkriegern in Amerika, was in Europa weitgehend Konsens ist: Drogensucht ist eine Krankheit. Das bedeutet: Behandlung und Therapie statt Repression und Polizei. Es geht längst nicht nur um den harten, illegalen Stoff. Legale Alltagsdrogen wie Alkohol oder Nikotin sorgen für ein riesiges Reservoir an Süchtigen. Die Hauptstelle gegen Suchtgefahren schätzt allein für Deutschland die Zahl der süchtigen Raucher auf 6,8 Millionen, hinzu kommen 4,3 Millionen Alkoholiker.

So hilfreich ein Impfen gegen die Sucht in vielen Fällen auch sein könnte - von der Sucht heilen können körpereigene Antikörper allein nicht. Denn was nützt die beste Prävention etwa gegen Kokain, wenn die Gier nach der Droge, das so genannte Craving, ungestillt bleibt? Die Antwort kommt vielleicht aus der schwäbischen Provinz. In Reutlingen haben Jochen Wolffgramm und Andrea Heyne ein Verfahren entwickelt, das die Heroinsucht bei Ratten heilen kann. Am Anfang des Drogenmissbrauchs, sagt Wolffgramm, werde die Biochemie des Gehirns kaum beeinflusst. Beispielsweise machen hohe Morphiumdosen Schmerzpatienten nicht süchtig. Offenbar reicht Drogenkonsum allein nicht aus, um die für Süchtige charakteristische unstillbare Gier, den Kontrollverlust zu erzeugen. Unter Stress dagegen, bei Liebeskummer, Jobverlust, aber auch während des Drogenentzugs schüttet der Körper das Hormon Kortikosteron aus, erklärt Wolffgramm. Das Gehirn werde dadurch prägungsbereit. Helfe die Droge in diesem Moment als Seelentröster, dann verlange das Gehirn künftig bei Depressionen nach dem Rauschgift. Jede Sucht, ob nach Heroin, Kokain, Alkohol oder Nikotin, werde regelrecht erlernt. Erhalte der Körper die Droge nicht als "Belohnung" in Reizsituationen, sondern permanent und unfreiwillig, dann entstehe eben keine Sucht.

Jochen Wolffgramm und Andrea Heyne haben im Tierversuch gezeigt, dass sich die Übertragungseigenschaften von Nervenbahnen bei süchtigen Ratten verändern. In einer bestimmten Hirnregion, dem Corpus striatum, werden die Zusammenhänge zwischen Reiz und Reaktion fixiert. Kommt es bei süchtigen Tieren zum Kontrollverlust, dann übernehmen für automatisierte Verhaltensweisen zuständige Nervenbahnen im Gehirn die Verhaltenskontrolle - der Drogenkonsum wird zwanghaft.

Auch süchtige Menschen weisen Änderungen im Gehirn auf, die noch sehr lange nach Absetzen der Droge erhalten bleiben. Die beiden Wissenschaftler sind sich sicher: Hier hat sich ein Suchtgedächtnis manifestiert. "Es ist aber eine andere Art von Gedächtnisbildung, als wenn ich eine Sprache lerne oder Ähnliches", erklärt Wolffgramm. "Wir haben Spuren dieser Gedächtnisbildung in sehr tiefen und sehr alten Hirnstrukturen gefunden, nämlich im basalen Vorderhirn. Diese Veränderungen gehen tatsächlich mit dem Kontrollverlust einher."

Jahrelang beobachteten die beiden Suchtforscher dieses Phänomen, bis sie auf den Gedanken verfielen, das neurobiologische Suchtprogramm im Rattenhirn gewissermaßen rückwärts laufen zu lassen. Sie machten die Tiere mit synthetischen Kortikoiden prägungsfähig und zwangen ihnen mit dem Trinkwasser permanent Opiate auf. Diese chemische Zange verspricht therapeutischen Erfolg: Alle so behandelten süchtigen Ratten haben laut Wolffgramm "ihre Sucht vergessen". Nach dieser Rückprägung verhielten sich die Tiere, als wären sie nie mit dem Rauschgift in Kontakt geraten. Ein Erfolg, der nun auf Menschen übertragen werden soll.

An der Universitätsklinik für Psychiatrie in Tübingen fand kürzlich der weltweit erste klinische Therapieversuch mit der Rückprägung statt. Zunächst wurden 25 schwerstabhängige Heroinsüchtige entgiftet, denn ohne den täglichen Schuss Heroin kommt es zu drastischen Entzugserscheinungen wie Krämpfen, Herzrasen, Schweißausbrüchen, physischem Zusammenbruch. Götz Mundle, Oberarzt an der Uniklinik Tübingen, und seine Kollegen versuchten unter stationären Bedingungen die psychische Abhängigkeit, die fast alle Süchtigen wieder rückfällig werden lässt, durch Rückprägung zu bekämpfen. Auch der abhängige Mensch solle sein Suchtgedächtnis, das Craving, vergessen, fordert Mundle. "Nur dann werden wir langfristig auch den Süchtigen helfen können."

Nach der Entgiftung bekamen die 25 Exjunkies in Tübingen eine Woche lang das Stresshormon Kortikosteron, um ihr Gehirn für neue Lerninhalte zu sensibilisieren. Zusätzlich erhielten die heroinsüchtigen Patienten Kodein satt. Viermal am Tag, nach strengem Zeitplan, ob sie wollten oder nicht. Der Hustensaftwirkstoff Kodein ist ein Opiat und wirkt hoch dosiert wie Heroin. Im Gedächtnis soll sich die Erfahrung einprägen, dass die Droge keine Belohnung mehr ist, sondern Last und Qual. Das ist das Neue an der Rückprägungstherapie.

Suchtforscher Wolffgramm sieht noch andere Anwendungsgebiete. "Wenn es bei Heroin funktioniert, dann muss es auch anderswo funktionieren." Zwar reiche eine Kur aus Kortikosteron und Schnaps wohl kaum aus, um den Alkoholismus zu verlernen, dafür wirke Alkohol - anders als Opiate - viel zu komplex. "Aber in drei, vier Jahren werden wir auch da etwas gefunden haben", glaubt er.

Der neue Therapieansatz gleicht einer Umprogrammierung im Kopf. Eine Vorstellung mit neuen, vor allem ethischen Implikationen. Gleichzeitig weckt die Rückprägungstherapie auch Hoffnung für Millionen Süchtige weltweit - falls sich die Ergebnisse in weiteren Studien bestätigen. Die erste vorsichtige klinische Studie mit 25 Patienten reicht dafür längst nicht aus. Götz Mundle beschreibt den derzeitigen Kenntnisstand: "Es gibt keine neuen Nebenwirkungen, wenn wir Menschen so behandeln. Das Verfahren ist, soweit wir es jetzt beurteilen können, sicher. Wir haben Indizien für die Wirksamkeit. Wir konnten eine Verbesserung des Verlaufs der Erkrankung bei knapp einem Viertel der Patienten erreichen. Verglichen mit bisherigen Therapieverfahren, ist das etwas besser. Diese Ergebnisse sind ermutigend, aber noch nicht optimal."

Zur Optimierung, Kontrolle und besseren Einstellung der Medikamente wird es noch in diesem Jahr an der Universität Würzburg zwei Folgestudien geben. Besonders an die Kombination von Rückprägungs- und Psychotherapie wird gedacht. Die Wissenschaftler sind zwar zuversichtlich, aber sie warnen zu Recht vor der Vorstellung, ein Medikament allein könne die Sucht heilen. Niemand weiß, wie dominant der genetisch fixierte Anteil der Sucht ist, und eine "Suchtpersönlichkeit" würde immer einen Weg finden, diese Eigenschaft auch auszuleben.

Auch die Psychotherapie könnte von dem Verfahren profitieren

"Man wird mit einer pharmakologischen Therapie zwar die biologischen Ursachen behandeln können", mahnt auch Andrea Heyne, "aber eine Pille gegen die Sucht wird dem Betroffenen keinen neuen Arbeitsplatz liefern, wird keine Beziehung kitten und kein soziales Umfeld reparieren. Eine Pharmakotherapie kann nur den Kontrollverlust rückgängig machen und damit die Basis schaffen für eine Wiedereingliederung in das normale Leben."

Pharma- und Psychotherapie müssen ineinander greifen, um die Rückfallquoten deutlich zu senken. Der Ansatz, gezielt Gedächtnisinhalte zu verändern, muss nicht auf die Suchtbehandlung beschränkt bleiben. "Wenn es uns gelänge", spekuliert Mundle, "therapeutisch Gedächtnisinhalte und Erinnerungen so verändern zu können, dass der Patient später sein Leben freier gestalten kann, dann wären wir einen großen Schritt weiter in der Psychotherapie."

Allerdings wären die ethischen Gefahren auch nicht zu unterschätzen. Werden verhaltensauffällige Menschen künftig einfach umgeprägt? Wer überwacht das? "Wir haben noch einen langen Weg vor uns", sagt Jochen Wolffgramm, "wir sind im Augenblick bei der Heroinsucht am weitesten. Bei anderen Süchten brauchen wir sicher noch einige Jahre. Aber im Prinzip bin ich davon überzeugt, dass Sucht heilbar ist."

Von John A. Kantara wird am 25. März um 16 Uhr auf 3sat der Film "Die Pille gegen die Sucht?" gesendet

(c) DIE ZEIT   13/2001